10.07.2013

nicht notwendig, glücklich zu sein


Ein wunderbarer Zufall oder vielmehr ein Schicksal, es ist durch Sie vieles in mir entstanden, das ich nie gedacht hatte, und nichts, was ehemals in mir war, hat sich gehemmt und unterdrückt gefühlt; ich gäbe mein Leben darum, Sie zufriedener und glücklicher zu machen, ich weiß auch, dass ich nicht leicht je aufhören kann, in ihr Empfinden und Denken verwebt zu sein, ich fühle noch lebendiger, dass ich Ihnen noch viel sein kann, wenn Sie nur in sich den Glauben an mich erhalten und so bin ich, seit ich Sie kenne, unendlich reiner mit mir selbst abgeschlossener in allen Wünschen und Erinnerungen, oft weniger glücklich, aber doch mehr Eins mit mir und allem, was mich umgibt. Das weniger glücklich muss Sie nicht schmerzen, liebe Freundin. Es gibt leidenschaftliche Augenblicke, von denen Ruhe und Glück fern sind, die aber, wer das wahre Leben versteht, nie aus sich wegwünscht. Es ist nicht notwendig, glücklich zu sein, aber unerlässlich, seine eigentliche, tiefe Bestimmung zu erfüllen; auch der Seidenwurm mag nicht glücklich sein, wenn er sich einspinnt, aber es gibt ein Gefühl, das weit mehr als Glück ist, die Ruhe der Wehmut, und die geht allemal aus der Erfüllung der Bestimmung hervor. Die Bestimmung aber ist in jedem Menschen eine eigene, auch findet man sie nie, wenn man danach sucht; aber in Momenten der Rührung, im Zusammensein mit Gleichgestimmten oder der Einsamkeit mit sich selbst, geht sie hervor wie eine Flamme im Dunkel und wer nicht willkürlich die Augen verschließt, verkennt sie nie. Daran halten auch Sie sich, meine Liebe, wenn Sie sich verlassen fühlen. Eigentlich sind sie es nie.

Wilheilm von Humboldt an Johanna Mothberby, Berlin, den 7.März 1810
Liebesbriefe großer Männer - Sabine Anders und Katharina Maier

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