26.01.2013

Ich sage zwei

Mit jedem Tag und ausgehend von beiden Seiten meines Verstandes, der moralischen und der intellektuellen, kam ich so jener Wahrheit näher, durch deren unvollständige Entdeckung ich zu einem so grässlichen Scheitern verurteilt worden bin: dass der Mensch in Wirklichkeit nicht einer ist, sondern zwei. Ich sage zwei, weil der Stand meines eigenen Wissens über diesen Punkt nicht hinausgeht. Andere werden folgen, andere werden mich in derselben Richtung übertreffen; und ich wage die Vermutung, dass man den Menschen letztlich als ein bloßes Gemeinwesen mannigfaltiger, unvereinbarer und abhängiger Bewohner kennenlernen wird. Ich für mein Teil schritt, wie es der Natur meines Lebens entsprach, unfehlbar in eine Richtung und nur in eine Richtung fort. Es war auf der moralischen Seite und an meiner eigenen Person, dass ich die umfassende und ursprüngliche Dualität des Menschen zu begreifen lernte; ich sah, dass sich von den zwei Naturen, die im Feld meines Bewusstseins miteinander rangen, überhaupt nur deshalb zutreffenderweise feststellen ließ, ich sei eine von beiden, weil ich radikal beide war; und schon sehr früh, noch bevor der Gang meiner wissenschaftlichen Entdeckungen mich auch nur auf die bloße Möglichkeit eines solchen Wunders gebracht hatte, war ich daran gewöhnt, in einem geliebten Tagtraum zu schwelgen, dem Gedanken einer Trennung dieser Elemente. Wenn jedes, sagte ich mir, nur in gesonderten Identitäten untergebracht werden könnte, dann wäre das Leben von allem, was es Unerträgliches an sich hat, befreit; der Ungerechte könnte seinen Weg gehen und wäre von den Ansprüchen und Gewissensbissen seines aufrechteren Zwillings entlastet; und der Gerechte könnte charakterfest und sicher auf seinem aufsteigendem Pfad wandeln, die guten Werke tun, an denen er seine Freude hat und wäre der Schande und Reue nicht länger ausgesetzt, die ihm dieses außerliche Böse einträgt. Es war der Fluch der Menschheit, dass diese unvereinbaren Bestandteile derart aneinandergekettet wurden - dass diese gegensätzlichen Zwillinge unaufhörlich im gequälten Schoß des Bewusstseins miteinander kämpfen sollten. Wie aber trennte man sie?

Dr. Jekyll und Mr. Hyde - Robert Louis Stevenson

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