08.01.2013

Der Geburtstag der Infantin

Was war das? Er überlegte einen Augenblick und sah sich nach dem anderen Teil des Raumes um. Es war sonderbar, aber alles schien in dieser unsichtbaren Wand aus klarem Wasser sein Ebenbild zu haben. Ja, Bild für Bild wiederholte sich und ein Ruhebett um das andere. Der schlafende Faun, der in dem Alkoven neben dem Türbogen lag, hatte seinen schlummernden Zwillingsbruder, und die silberne Venus, die im Sonnenlicht stand, hielt ihre Arme einer ebenso lieblichen Venus entgegen.
War es das Echo? Er hatte es einmal im Tal angerufen, und es hatte ihm Wort für Wort geantwortet. Konnte es das Auge narren, wie es die Stimme nachäffte? Konnte es eine Scheinwelt schaffen, geradeso wie die richtige Welt? Konnten die Schatten der Dinge Farbe, Leben und Bewegung haben? Konnte es sein, dass ... ?
Er erschrak, und während er von seiner Brust die schöne weiße Rose nahm, drehte er sich um und küsste sie. Die Missgeburt hatte auch eine Rose, Blatt für Blatt die gleiche! Sie küsste sie mit gleichen Küssen und drückte sie mit grässlichen Gebärden an die Brust.
Als ihm die Wahrheit dämmerte, stieß er einen wilden Schrei der Verzweiflung aus und fiel schluchzend zu Boden. Also war er es, der missgestalt und bucklig, widerwärtig anzusehen und lächerlich war. Er selbst war die Missgeburt, und über ihn hatten alle Kinder gelacht, und die kleine Prinzessin, von der er geglaubt hatte, sie liebe ihn - auch sie hatte sich nur über seine Hässlichkeit lustig gemacht und ihren Spaß gehabt an seinen verdrehten Beinen. Warum hatten sie ihn nicht im Wald gelassen, wo es keinen Spiegel gab, der ihm erzählte, wie abscheulich er war? Warum hatte ihn sein Vater nicht lieber getötet, als ihn zu seiner Schmach zu verkaufen? Heiße Tränen rannen über seine Wangen hernieder, und er zerpflückte die weiße Rose. Die auf dem Boden liegende Missgeburt tat das gleiche und warf die welken Blütenblätter in die Luft. Sie lag bäuchlings am Boden, und wenn er sie ansah, beobachtete sie ihn mit schmerzverzerrtem Gesicht. Er kroch fort, damit er sie nicht sähe, und bedeckte die Augen mit den Händen. Er kroch wie ein verwundetes Geschöpf in den Schatten und blieb dort stöhnend liegen.
[...]
Aber der kleine Zwerg blickte nicht hoch, und sein Schluchzen wurde schwächer und schwächer, und plötzlich japste er auf sonderbare Weise nach Luft und griff sich in die Seite. Und dann fiel er wieder zurück und lag ganz still.
»Famos«, sagte die Infantin nach einer Pause, »aber jetzt musst du für mich tanzen.«
»Ja«, riefen alle Kinder, »du musst aufstehen und tanzen, denn du bist so geschickt wie die Berberaffen und viel komischer.«
Doch der kleine Zwerg gab keine Antwort.
Und die Infantin stampfte mit dem Fuß auf und rief ihren Onkel an, der draußen auf der Terrasse mit dem Kämmerer spazierte und einige Depeschen las, die soeben aus Mexico angelangt waren, wo man vor kurzem die Inquisition eingesetzt hatte. »Mein drolliger kleiner Zwerg schmollte, rief sie, »du musst ihn aufrütteln und ihm befehlen, dass er für mich tanzt.« Sie lächelten einander zu und schlenderten hinein, und Don Pedro beugte sich nieder und schlug dem Zwerg mit seinem gestickten Handschuh auf die Wange. »Du musst tanzen, petit monstre«, sagte er. »Du musst tanzen. Die Infantin von Spanien und den beiden Indien wünscht, unterhalten zu werden.«

Doch der kleine Zwerg rührte sich nicht.
»Man sollte einen Auspeitscher kommen lassen«, sagte Don Pedro müde und ging wieder auf die Terrasse. Der Kämmerer machte jedoch ein ernstes Gesicht und kniete sich neben den kleinen Zwerg und legte die Hand auf sein Herz. Und wenige Augenblicke später zuckte er die Achseln und stand auf, und nach einer tiefen Verneigung vor der Infantin sagte er: »Mi bella princesa, Euer drolliger kleiner Zwerg wird nie wieder tanzen. Schade drum, denn er ist so hässlich, dass er vielleicht den König zum Lächeln gebracht hätte.«
»Aber warum wird er nicht tanzen?« fragte die Infantin lachend.
»Weil ihm das Herz gebrochen ist«, antwortete der Kämmerer.
Und die Infantin runzelte die Stirn und warf in reizender Verachtung die hübschen rosenblättrigen Lippen auf. »In Zukunft lasst die, die zu mir spielen kommen, keine Herzen haben«, rief sie und lief hinaus in den Garten.

"Der Geburtstag der Infantin" - Oscar Wilde

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