15.10.2012

Kommunisten und Schach


Natürlich bin ich wieder hingegangen. Ich habe die Tür aufgestoßen. Nach und nach habe ich die Mitglieder des Clubs kennengelernt. Fast alle waren Leute aus Ländern im Osten. Ungarn, Polen, Rumänien, Ostdeutsche, Jugoslawen, Tschechoslowaken, Russen, pardon, Sowjiets, verbesserten einige. Es gab auch einen Chinesen und einen Griechen. Die große Mehrheit teilte die Leidenschaft für das Schachspiel. Zwei oder drei verabscheuten es, spielten nicht und kamen trotzdem jeden Tag hierher. Sie hatten keinen anderen Ort, wo sie hingehen konnten.[...]
Sie hatten mehrere Dinge gemeinsam. Sie waren unter dramatischen oder phantasischen Umständen aus ihrer Heimat geflohen, häufig waren sie anläßlich einer geschäftlichen oder diplomatischen Reise in den Westen gegangen. Einige waren nie Kommunisten gewesen und hatten ihre Meinung jahrelang verheimlicht. Andere waren Kommunisten der ersten Stunde gewesen, zutiefst überzeugt, für das Wohl der Welt einzutreten, bevor ihnen der Schrecken des Systems bewußt wurde und sie erkannten, daß sie in ihre eigenen Falle getappt waren. Einige waren es noch immer, auch wenn sie von ihrer Partei und der kommunistischen Partei Frankeichs verleugnet und verstoßen worden waren, weil sie als Verräter galten.[...]
Sie hatten die Freiheit gewählt und dafür Frau, Kinder, Familie und Freunde aufgegeben. Deshalb gab es in diesem Club keine Frauen. Sie hatten sie in der Heimalt zurückgelassen. Sie waren Schatten, Parias, mittelos, ihre Diplome wurden nicht anerkannt. Ihre Frauen, ihre Kinder und ihr Land befanden sich in einer Ecke ihres Kopfes und ihres Herzens. Sie blieben ihnen treu.[...] Sie besaßen nichts, sie waren nichts, sie waren am Leben. Wie ein Leitmotiv kehrte es bei ihnen immer wieder: "Wir sind am Leben, und wir sind frei." Wie mir eines Tages Sascha sagte: "Der Unterschied zwischen uns und den anderen ist, daß sie leben und daß wir überlebt haben. Wenn man überlebt hat, hat man nicht das Recht, sich über sein Los zu beklagen, das wäre eine Beleidigung derer, die dageblieben sind." [...]

Ich ließ meine Kickerfreunde sitzen und wurde das jüngste Mitglied des Clubs. Ich freundete mich mit Igor Markish an, einem russischen Arzt, der mir Schachspielen beibrachte. Er hatte in Leningrad einen Sohn meines Alters. Er stellte mich seinem Kumpel Kessel vor, mit dem er russisch sprach. Auf diese Weise habe ich auch Sartre kennengelernt. Was ich von ihm erzählen kann, wiederspricht allen Biographien. Sartre scherzte, war ein Spaßmacher, schummelte beim Schachspiel, indem er Bauern stibitzte und in Lachen ausbrach, wenn Kessel ihn überraschte und sich wundere, wo sein Springer auf f5 abgeblieben war. Er kam nicht oft. Er spürte die Feindschaft mehrerer Clubmitglieder, die ihm seine Sympathie für den Kommunismus vorwafen, aber dennoch sein Geld annahmen. Er schrieb den ganzen Nachmittag auf einen Papierblock, ohne den Kopf zu heben, in seine Arbeit vertieft, seine Zigarette bis zum Filter aufrauchend, und niemand wagte es, ihn zu stören. Wir betrachteten ihn mit gewisser Scheu von ferne und hatten den Eindruck, privilegierte Zeugen eines Schaffensprozess zu sein und selbst die , die ihn nicht mochten, achteten darauf, daß Stille herrschte.
"Macht keinen Lärm. Sartre arbeitet."

Der Club der unverbesserlichen Optimisten - Jean-Michel Guenassia

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