11.05.2012

Wohin?




Zwei Dinge hatte Herr Sommer sowohl im Sommer als auch im Winter bei sich und kein Mensch hat ihn je ohne sie gesehen: Das eine war sein Stock und das andere sein Rucksack. Der Stock war kein gewöhnlicher Spazierstock, sondern ein langer, leicht gewellter Nußbaumstekken, der Herrn Sommer bis über die Schulter reichte und ihm als eine Art drittes Bein diente, ohne dessen Hilfe er niemals die enormen Geschwindigkeiten erreicht und die unglaublichen Strecken bewältigt haben würde, die die Leistungen eines normalen Spaziergängers um so vieles übertrafen. Alle drei Schritte schleuderte Herr Sommer seinen Stock mit der Rechten nach vorn, stemmte ihn gegen den Boden und schob sich damit im Vorübergehen mit aller Macht voran, so daß es aussah, als dienten ihm die eigenen Beine bloß noch zum Dahingleiten, während der eigentliche Schub aus der Kraft des rechten Arms herstammte, die mittels des Stockes auf den Boden übertragen wurde - ähnlich wie bei manchen Flußschiffern, die ihre flachen Kähne mit langen Stangen übers Wasser staken. Der Rucksack aber war immer leer, oder fast leer, denn er enthielt, soweit man wußte, nichts anderes als Herrn Sommers Butterbrot und eine zusammengefaltete hüftlange Gummipelerine mit Kapuze, die Herr Sommer anzog, wenn ihn unterwegs ein Regen überraschte.


Wohin aber führten ihn seine Wanderungen? Was war das Ziel der endlosen Märsche? Weshalb und wozu hastete Herr Sommer zwölf, vierzehn, sechszehn Stunden am Tag durch die Gegend? Man wußte es nicht.

"Die Geschichte von Herrn Sommer" - Patrick Süßkind

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