18.12.2009

die Schneeweiße Witwe

Das Furchterregendste an der Schneeweißen Witwe war nicht, was man von ihr sah - sondern das, was man nicht sah. Sie war umgeben von einem Schleier aus schneeweißen Haaren, der ihren Körper vollständig verhüllte. Sie sah aus wie eine kunstvolle Perücke aus langen seidigen Strähnen, als habe sich der Kopf einer Enthaupteten auf seine Haarspitzen gestellt und erhoben, um ihren Henker mit einer schrecklichen Ballettvorstellung zu Tode zu ängstigen. Es schien, als bewege sich die Schneeweiße Witwe unter Wasser oder in der Atmospähre eines fremden Planeten, auf dem andere Naturgesetze herrschten. Hier und da hatte sich einzelne Strähnen aus dem Haar gelöst und wehten hin und her, auf und ab, unwillkürlich träge, als ob sie in einer anderen Zeit existierten.«

»Ja, sie ist wirklich gefährlich«, wisperte Eißpin ergriffen. Er hantierte vorsichtig an den Ventilen, bis das Säuseln verstummte. »Ihr Gift ist zehntausend mal wirkungsvoller als das des giftigsten Skoprions. Sie springt auf kurze Entfernungen schneller als der Blitz. Sie singt im Dunkeln, und wenn du diesen Gesang einmal gehört hast, kannst du ihn niemals wieder vergessen. Nie wieder.«

[...]

Eißpin war jetzt ganz nahe an den Käfig herangetreten. »Wenn sie dich sticht« ,sagte er »oder besser, dich binnen einer Sekunde hundertfach perforiert mit ihren Haarspitzen, dann bist du rettungslos des Todes. Es gibt kein Gegengift, weil sie die Zusammensetzung ihres Giftes täglich verändert. Und was dieses Gift mit deinem Körper anstellt, das ist beispiellos in der Welt der toxischen Substanzen. Der Tod durch die Schneeweiße Witwe ist der schönste und der schrecklichste zugleich, größte Qual und höchstes Entzücken. Der Körper schüttet Unmengen von Glückshormonen aus, um der Qual etwas entgegenzusetzen, und das versetzt dich in eine Agonie des Glücks, in eine Ekstase des Schmerzes, die keinem Lebewesen zu wünschen ist. Deine Haare werden dabei so schlohweiß, wie die ihren. Und dann, wenn dein Herz sich endlich vor Pein zerrissen hat, zerfällt dein Körper zu weißem Puder.«

»Man sagt, die Schneeweiße Witwe komme von dem Planeten, auf dem der Tod selbst wohnt« ,flüstete Eißpin. »Und dass der Tod sie erschaffen habe, um zu erfahren, wie es ist, sich vor etwas zu fürchten. Das ist natürlich Unfug! Der Tod wohnt in uns allen und sonst nirgends. Aber eines ist unbestritten: Sie ist die Königin der Furcht.

"Der Schrecksenmeister" - Walter Moers

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