26.06.2009

Jetzt ruiniere ich es.

Ich weiß, ich sollte alles erzählen. Rosalies Gang durchs Vorzimmer in jenem Raum, in dem gestorben wird. [...] Ich sollte anschaulich machen , wie Rosalie sich setzt und den Kopf auf die Hände stützt, wie ein Blick zum Fenster ihr zum letzten Mal die Nebelferne des Himmels zeigt, wie ihre Angst der Ermattung weicht, wie sie - hier, bitte, und hier, und dann noch hier, gnädie Frau - Formulare unterschreibt, und wie schließlich das Glas mit Gift vor sie hingestellt wird. Ich sollte erzählen, wie sie es zum Mund führt, [...]
Ja, das hätte eine gute Geschichte werden können, ein wenig sentimental zwar, aber die Melancholie ausbalanciert durch Humor, das Brutale in der Schwebe gehalten mit etwas Philosophie. Ich hatte alles durchdacht. Und Jetzt?

Jetzt ruiniere ich es. Ich [der Autor] reiße den Vorhang weg, werde sichtbar, erscheine vor der Lifttür. [...] Rosalie, du bist gesund. Und wenn wir schon dabei sind, sei auch wieder jung. Fang von vorne an! Bevor sie noch antworten kann, bin ich wieder verschwunden, und sie steht im Lift, der nach unten fährt, und kann nich begreifen, dass ihr aus dem Spiegel eine zwanzigjährige Frau entgegenblickt. Etwas schiefe Zähne, Die haare dünn und der Hals zu schmal, eine Schönheit war sie nie, aber das kann ich ihr nicht auch noch schenken. Andererseits - warum nicht! Jetzt spielt das schon keine Rolle mehr.
Danke
Ach, sage ich erschöpft, nicht zu früh.

[...] Und Rosalie? Sie geht die Straße entlang, mit großen Schritten, halb bewußtlos noch vor Freude, und mir scheint es für einen Moment, als hätte ich richtig gehandelt, als wäre Gnade das Höchste und als käme es auf eine Erzählung weniger nicht an. Und zugleich, ich kann es nicht leugnen, kommt mir die absurde Hoffnung, dass dereinst jemand dasselbe für mich tun wird. Denn wie Roaslie kann auch ich mir nicht vorstellen, dass ich nichts bin ohne die Aufmerksamkeit eines anderen, ja dass meine bloße halbwahre Existenz endet, sobald dieser andere den Blick von mir nimmt - so wie eben jetzt, da ich diese Geschichte endgültig verlasse, Roaslies Dasein erlischt. Von einem Moment zum nächsten. Ohne Todeskampf, Schmerz oder Übergang. Eben noch ein seltsam angezogenes Mädchen, wirr vor Staunen, jetzt nur mehr eine Kräuselung in der Luft, ein noch Sekunden sich haltender Ton, eine verbalssende Erinnerung in meinem Gedächtnis und in Ihrem, während Sie diesen Absatz lesen.

Ruhm: Ein Roman in neun Geschichten - Daniel Kehlmann

Keine Kommentare :

Kommentar veröffentlichen