10.09.2008

Er hätte genug Erinnerungen

[...]In der Zelle habe ich dann darum gebeten, dass man sie mir zurückgibt. [...] Abgesehen von diesen Unannehmlichkeiten war ich nicht besonders unglücklich. Das Hauptproblem war wieder einmal, die Zeit totzuschlagen. Von dem Augenblick an, als ich gelernt habe, mich zu erinnern, habe ich mich dann überhaupt nicht mehr gelangweilt. Ich beschäftigte mich manchmal damit, an mein Zimmer zu denken, und in der Phantasie ging ich von einer Ecke aus und wieder dorthin zurück, wobei ich im Geiste alles unterwegs registrierte. Am Anfang war es schnell erledigt. Aber jedes Mal, wenn ich wieder anfing, dauerte es etwas länger. Ich erinnerte mich nämlich an jedes Möbelstück, und bei jedem einzelnen an jeden dazugehörigen Gegenstand, und bei jedem Gegenstand an alle Einzelheiten, und bei den Einzelheiten wiederum an eine Ablagerung, einen Riss oder eine schartige Kante, an ihre Farbe oder an ihre Krönung. Gleichzeitig versuchte ich, den Faden meiner Bestandsaufnahme nicht zu verlieren, eine vollständige Aufzählung zu machen. So konnte ich nach einigen Wochen Stunden allein mit dem Aufzählen dessen verbingen, was sich in meinem Zimmer befand. Je mehr ich nachdachte, desto mehr unbeachtete Dinge holte ich so aus meinem Gedächtnis hervor. Da ist mir klar geworden, dass ein Mensch, der nur einen einzigen Tag gelebt hat, mühelos hundert Jahre in einem Gefängnis leben könnte. Er hätte genug Erinnerungen um sich nicht zu langweilen. In gewisser Weise war das ein Vorteil. [...]

"Der Fremde" von Alfred Camus

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